Es gibt nett und es gibt nett.

Lieber Peter,
Ich bin dir noch eine Antwort schuldig, wie ich hier gerade sehe. In deinem Kommentar zum Eintrag „Re.“ vom 24.02. fragst du nach dem scheinbar höheren Nettigkeitslevel in Japan.
Eine durchaus komplizierte Angelegenheit, wenn man sich etwas tiefergehend damit beschäftigt.
Um deinen Begriff aufzugreifen: Ich habe den Eindruck, dass das „vordergründige“ Nettigkeitslevel in Japan größer ist. In der Öffentlichkeit negative Gefühle aufkommen zu lassen, ist so undenkbar, dass man in jedem Laden mit für deutsche Verhältnisse übertrieben freundlicher (und lauter!) Stimme begrüßt wird. Wenn man ins Restaurant geht oder es verlässt, ist es nicht selten so, dass die gesamte im Raum anwesende Belegschaft wie Eins das Willkommen ruft. Ich habe auch noch nie gesehen, dass ein japanischer Ladenmitarbeiter einem Kunden wirklich offensichtlich gezeigt hätte, WIE nervig er gerade ist. Was ja in Deutschland durchaus passiert und m.E. in die Kategorie „Verkäufer sind auch nur Menschen“ fällt.
Ich habe als Kundin hier oft den Eindruck, dass es für den Verkäufer eine mittlere Katastrophe ist, wenn er oder sie meinem Wunsch nicht nachkommen kann. Der extrem höfliche Sprachstil tut ein Übriges. Die Tatsache, dass sich der Mitarbeiter im Elektronikladen in Sapporo für Andreas und mich ca. eine Stunde um die Ohren geschlagen hat, um unsere deutschen Telefone mit der japanischen SIM-Karte zu laufen zu bekommen und sich am Ende der Odysee auch noch bedankt hat dafür, dass er dadurch viel Neues lernen durfte, spricht für einen Servicegedanken, der vom deutschen doch abzuweichen scheint.
Du fragst, „Was können wir in Westfalen besser machen?“. Ich glaube, die Westfalen haben insgesamt gute Anlagen, um diesbezüglich zu Punkten. Denn diese vordergründige Freundlichkeit kann durchaus durch eine gewisse Stoik erklärt werden und für ihr sprichwörtlich ruhiges, stoisches Wesen sind die Westfalen nun einmal doch über die Landesgrenzen hinweg bekannt. Kann es ins brummelige und kurz abgebundene, ja ins phlegmatische umschlagen, so bietet es meines Erachtens eine gute Grundlage, um das nervige Gegenüber halt nervig sein zu lassen, man bleibt halt trotzdem stoisch freundlich. Soweit die folkloristisch-stereotype Handlungsempfehlung.
Dazu sei aber nun auch noch gesagt: Diese Perfektion mit der die Japaner das betreiben, scheint mir aber ehrlich gesagt doch auch darauf zu beruhen, dass man viel zu große Angst hat, aus dem Rahmen zu fallen und etwas falsch zu machen. Prinzipiell halte ich persönlich Angst aber immer für ein vergleichbar schlechtes Handlungsmotiv. Da ist mir der deutsche Verkäufer, der halt auch mal einen schlechten Tag hat, dann schon lieber. Japanische Kunden sind da aber auch total dran gewöhnt und benehmen sich dann gelegentlich auch ihrerseits aus meiner Sicht ziemlich sauig den Verkäufern gegenüber. Ich kenne es so: Wer gegrüßt wird, grüßt zurück. Egal, obs der Verkäufer, die Bundespräsidentin, der Kollege, die Nachbarin oder der Lehrer ist. Hier in Japan hängt das viel stärker von der hierarchischen Beziehung ab: Unten grüßt nach oben, aber umgekehrt nicht zwingend. Als Deutsche, die das nicht so krass gewohnt ist, finde ich das schade und ich sehe mit einem lachenden und einem weinenden Auge, wie die Verkäufer teils total beglückt sind, weil ich ihnen lächelnd in die Augen schaue, während ich mich tatsächlich Bedanke. Hierarchische Beziehung hier ganz klar: Der Kunde steht über dem Verkäufer. Als Ausländer bringt man diese Zustände aber sowieso immer mal wieder durcheinander, ob nun bewusst, gewollt, unbemerkt oder peinlich berührt. Allein schon die Tatsache, dass man die höfliche Sprachform, die der Verkäufer einem Kunden gegenüber zu benutzen hat, ja erst nach einige Zeit im Unterricht lernt, führt zu Problemen. Der Verkäufer sagt nämlich Dinge, die man inhaltlich schon längst verstehen würde, wenn er die ganzen höflichen Schnörkel wegließe und die einfach-normale Sprachform benutzt. Man merkt da schnell, welcher Verkäufer schon öfter mit Ausländern zu tun hatte: Einige benutzen sofort die neutrale Form, andere wechseln, nachdem sie merken, dass es nicht funktioniert, wieder andere kommen nicht auf die Idee zu wechseln. Der Mittelweg scheint mir da wie so oft der goldene zu sein: Erfahrene Japanischlerner spüren nämlich durchaus, dass die höfliche Form ihnen gegenüber nicht angewendet wird, was dann eben einer Herabsetzung gleichkommt.
Ich kann an beiden Umgangsformen gute und schlechte Seiten finden. Die Umstellung vom einen aufs andere ist eben krass und man zuckt schonmal zusammen, wenn man außerhalb Japans nicht so freundlich angesprochen wird oder innerhalb Japans um eine kleine Nachfrage ein unnötiger Riesenaufwand betrieben wird.

Vorder- und hintergründig liebe Grüße

Claudia

4 thoughts on “Es gibt nett und es gibt nett.

  1. Maike 11. April 2016 at 20:01

    Hallihallo,
    ich finde den Beitrag ziemlich spannend, vor allem, weil ich irgendwie vorher nie daran gedacht habe, ob in solchen Situationen von den Verkäufern eventuell Keigo benutzt wird. Hab gedacht, dass da einfach von beiden Seiten normalerweise der höflich-neutrale Sprachstil benutzt würde. Sowas finde ich ja immer sehr spannend 🙂
    Liebe Grüße aus dem frühlinghaften Bochum

    • athene 14. April 2016 at 13:55

      HA! Schön wär die Welt, wenn das so einfach wäre^^ Als Ausländer rennt man meistens mit dem höflich-neutralen Zeug durch die Weltgeschichte, aber das hält Japaner nicht davon ab, einen mit diversen anderen Höflichkeitsebenen zu attackieren, die dich dumm aus der Wäsche gucken lassen^^ Aber bis du hier bist, hast du das bestimmt drauf ;]

      • Maike 15. April 2016 at 9:52

        Oh man, da kann ich mich ja auf einiges gefasst machen 😀 Ich hab auch direkt mal meinen Tandempartner drauf angesprochen und was er mir so erzählt hat, ging in etwa in die gleiche Richtung. Ende diesen Semesters steht bei uns nämlich auch Keigo an…
        Dann dir erstmal weiterhin viel Spaß beim Durchwurschteln durch die diversen Höflichkeitsebenen 😉

        • athene 15. April 2016 at 13:47

          Es erleichtert mich irgendwie zu hören, dass die unabhängige, native Quelle meine Erzählung bestätigt^^“

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